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Leben und Arbeiten in der Türkei

Mit Kind in der Türkei leben? – Bildung in der Türkei

Da ich manchmal aus Deutschland zum Thema "Schule und Bildung in der Türkei" gefragt werde, wollte ich mal dazu einen Beitrag leisten. Es erstaunt mich doch sehr, dass auch Familien z.T. mit Kleinkindern in die Türkei auswandern wollen. Aber ich finde, dass das Bildungssystem der Türkei einer der wichtigsten Gründe ist, sich gegen die Türkei zu entscheiden.
Meine Meinung beruht vor allem auf meinen Beobachtungen, Geschichten die ich gehört habe und die Erfahrungen, die meine Cousins gemacht haben. Ich will nicht das türkische Schulsystem (Ministerium für Bildung) erklären, denn das kann man überall nachlesen. Es geht eher um die Missstände und Fehler, die im System existieren. Es geht nicht nur um die Qualität der Bildung, sondern auch um das Umfeld und die Umstände. Die finanziellen Aspekte spielen hier eine wichtige Rolle, weil das Leben eines Schülers sehr stark beeinträchtigt wird.

Die Fahrt zur Schule fängt schon sehr früh an

Um zur Schule zu gelangen, nehmen viele Schüler kostenpflichtige Dienstleister (
Beispiel Istanbul 2012/2013) in Anspruch. Das sind Privatunternehmen, die Lizenzen zum Transport von Schülern haben. Jedes Kind wird in der Regel vor der Haustür abgeholt. Das bedeutet, dass zuerst die Kinder abgeholt werden, die eine etwas längere Fahrt in Kauf nehmen müssen. Manche Kinder werden bereits um 06:30 abgeholt, um pünktlich 08:00 Uhr in der Schule zu sein. Das habe ich selber jeden Tag gesehen, als ich zur Arbeit ging. Der Unterricht von 10-13 jährigen, die ich gesehen habe, geht manchmal bis 16 Uhr. Wie kann man von einem Kind erwarten, an einem 10-Stunden-Tag was zu lernen?

Uniformen – Warum?

Ich bin total gegen Uniformen an Schulen, aber an öffentlichen und einigen privaten Schulen ist es Pflicht (
Anbieterbeispiel). Wenn ich die Menschen zum Thema gefragt habe, habe ich immer dasselbe Argument dafür gehört. Damit der Unterschied zwischen wohlhabenden und armen Schülern nicht erkennbar ist und keine sozialen Unruhen an den Schulen entstehen.

Das Argument halte ich nicht für besonders stark, man kann auf Schulhöfen durchaus zwischen armen und reichen Schülern unterscheiden. Die Uniform kann dies nicht kaschieren.

Während arme Familien gerade noch das Geld für ein zweites Set an Uniformen haben, können sich andere mehrere leisten. Allein an der Abnutzung und Pflege der Uniformen kann man das gut erkennen. Schuhe, Körperpflege, Unterhaltungen, Wohnorte – die Kinder wissen sehr gut Bescheid, wen es wie finanziell geht. Und wohlhabende Familien schicken ihre Kinder sowieso zu Privatschulen.

Uniformen werden aber dazu genutzt, um die Individualität und Persönlichkeit zu begrenzen und die Kreativität zu einzuschränken. Die individuelle Entwicklung wird stark beeinträchtigt und der Geist kann sich nicht voll entfalten. Wenn man ab dem Alter von 5-6 Jahren so aufwächst, 10 Stunden, 5 Tage die Woche das erlebt, dann kann man das als Erwachsener nicht so einfach ablegen. Das schlimmste ist, dass sich die Menschen dem nicht bewusst sind, weil es schon immer so war.

Dershaneler – Private Schulen für die Nachhilfe

Wenn jemand studieren möchte, muss er/sie am Ende der
Lise Okulu (Oberstufe) eine Prüfung (ÖYS, ÖSYM) ablegen, um sich einzuschreiben. Das Problem der Oberstufe ist, dass diese die Schüler nicht auf das Studium vorbereitet und damit auch nicht auf die Prüfung. Diese Lücke wird von der Privatwirtschaft gefüllt. Dershaneler werden nach Schulschluss am Nachmittag und Abend in der Woche, samstags und manchmal sonntags ganztags besucht.

Aber wer hier glaubt, dass Wissen vermittelt wird, der irrt sich. Die Dershaneler studieren jahrelang die Schlüssel und Fragetechniken der Prüfung und nutzen diese Kenntnisse anschließend, um es den Kindern zu erklären. Den Schülern werden Fragecodes, Fallstricke und Antworttechniken beigebracht, um eine möglichst hohe Punktzahl zu erreichen. Es werden Schemata beigebracht, wie man antworten soll.

Der Prüfungsdruck ist bei den 17-18 Jährigen enorm. Daher können sich Schüler sogar von der letzten Schulklasse komplett beurlauben lassen und sich vollkommen auf die Prüfungen konzentrieren. Anstatt die letzte Schulklasse zu besuchen, geht man zur Dershane.

Bei den Dershanes gibt es verschiedene Preisklassen. Je nachdem was man sich leisten kann, sucht man sich zumeist das aus, was einen guten Ruf und ein gutes Prüfungsergebnis verspricht.

Ein Kind hat quasi keine Chance die Prüfung zu bestehen, ohne die Dershane besucht zu haben.

Die Prüfung, um zu studieren

In der Türkei muss man für alles eine Prüfung ablegen. Ob in der Bildung, um einen öffentlichen Job zu bekommen oder bei der Bank zu arbeiten. Alles läuft immer auf eine Prüfung hinaus. Soft skills werden gar nicht berücksichtigt. Entscheidend sind die Punkte, die man im Laufe seines jungen Lebens gesammelt hat. Ich habe bis heute keinen Durchblick, welche Prüfung wie viel Gewicht hat. Wie viel Punkte man bekommen kann, warum man überhaupt eine dieser Prüfungen gemacht hat. Die verschiedenen Punkte sind einer der Hauptthemen, wenn türkische Eltern beim Tee zusammensitzen.

Die ÖYS dauert knapp 3 Stunden, findet immer im Juni statt, beinhaltet 180 Fragen (also 1 Minute pro Frage) und beruht auf multiple choice. Diese 3 Stunden entscheiden, ob man studieren darf, was man studieren darf (ja, man darf nicht alles) und wo man studieren darf. Diese 3 Stunden entscheiden über das Schicksal und die Zukunft eines jeden Menschen in der Türkei. Zum Glück darf man mehr als einmal teilnehmen und viele versuchen es ein zweites Mal.

Der Druck ist also enorm, das Kind steht im Mittelpunkt der Familie und die Nerven liegen blank. Der Erfolgsdruck erhöht die Nervosität weiter und Nervenzusammenbrüche bereits vor der Prüfung sind nicht ausgeschlossen.

Ach ja, an der Prüfung darf jeder teilnehmen soweit ich weiß. Probiert es mal aus.

Privatunterricht daheim

In der Türkei investieren Familien sehr viel in die Bildung des Kindes. Neben Schule und Dershane, die zusammen 12-14 Stunden am Tag abverlangen können, werden auch
Privatlehrer nach Hause geholt. Meistens am Sonntag, weil dies der einzig freie Tag ist. Somit hätten die Kinder eine 7 Tage-Woche voller Bildung. Die Privatlehrer sind meist Personen aus der Schule des Kindes, alternativ werden andere Lehrer empfohlen. Je nach Alter und Thema können Preise stark variieren (50TL aufwärts, aber über 100TL/Std. ist normal glaube ich). Privatlehrer werden aus zwei Gründen geholt, um Schwächen des Kindes auszugleichen oder um Zusatzwissen zu vermitteln.

Es ist bedenklich, dass Lehrer im Beamtenstatus Privatunterricht geben. Sie können dadurch ihre Gehälter z.T. verdoppeln, daher sollte man die Qualität des schulischen Unterrichts in Frage stellen. Absichtliche Manipulation um Privatstunden von Schülern zu ergattern ist sicherlich lukrativ. Aber auch die Überarbeitung der Lehrer senkt die Qualität des Unterrichts.

Privatschulen – die bessere Alternative

Das ist die höchste Stufe der Bildung. Die Elite und die der Elite nahe ist, schickt ihre Kinder vom Kindergartenalter an auf rein
privat-staatlich anerkannte Institute. Das Angebot ist vielfältig und man muss sich sehr gut informieren, um die richtige Schule zu finden. Außerdem kann es auch hier wieder Prüfungen geben. Aber Netzwerke, Seilschaften, Spenden an die Schule können helfen, um auf der Schule aufgenommen zu werden. Umso exklusiver, desto schwieriger und teurer wird es. Neben Schulgebühren muss man auch Kosten für Unterrichtsmaterial, Fahrtkosten, Verpflegung meistens noch extra zahlen.

Die Bildung ist durchaus besser, zumeist auch international ausgerichtet mit ausländischen Lehrern und Schüleraustauschprogrammen. Die Verpflegung und Förderung der Kinder ist definitiv besser. Danach kann man locker an einer Eliteuniversität studieren (vielleicht sogar mit Stipendium) und der Arbeitsplatz danach gilt auch als gesichert.

Meiner Meinung nach liegt das Bildungsniveau der Privatschulen auf der Höhe der öffentlichen Schulen in Deutschland und die gibt’s dort kostenlos. Die Gebühren ab 1.000EUR pro Monat sollte man dann doch in eine gute private Schule in Deutschland investieren.

Mit Kind in die Türkei?

Beim Auswandern in die Türkei ist für mich ein Kind das K.O.-Kriterium. Ich würde niemals mein Kind in der Türkei zur Schule schicken wollen. Das ist ein Grund bei mir, um die Türkei zu verlassen. Leider werden die sozialen Kompetenzen kaum gefördert, was die persönliche Entwicklung einschränkt und auch die Kreativität und freies Denken entsprechend beeinflusst. Die Einschränkung beim Studienfach kann ebenfalls unglücklich machen. Daher überlegt es Euch richtig gut, ob Ihr mit Kindern hier leben wollt.

Aber das ist nur meine Meinung, jeder darf mir gerne widersprechen.
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